Linie, Raum und das Unbestimmte – zur Natur der Bilder von Clemens Büntig

Ein Mann geht über die Wiesen. Er bricht die eine und andere Blume, er sammelt Zweige und nimmt sie mit nach Hause. Die freie Natur ist ihm wichtig, ein Raum, der auch den Menschen befreit – Raum, in dem das Große und Kleine beieinander stehen. So stelle ich mir den Wanderer und Sammler Clemens Büntig vor, wenn er auf Beutezug geht und den Blick von der Ferne auf das Nahe richtet. Im Atelier sitzt dann der Künstler, nimmt das Gesammelte in die eine Hand und zeichnet es mit der anderen. Genau beobachtet er das Typische und die Abweichungen, die individuelle Blume, die einzelne Rispe, die Kontur und ihre Verzweigungen. Im Beobachten zeichnet seine andere Hand das Gesehene. Das Auge vermittelt zwischen beiden Händen und auf dem Blatt oder gleich auf einer Druckplatte entstehen Strukturen, die allmählich zum Bild werden.

Es ist heute eher ungewöhnlich, dass ein Künstler sich nach einem konkreten Gegenstand richtet und es fällt noch mehr aus unserer Zeit blitzschneller digitaler Aufzeichnung, dass die Anschauung, das genaue Studium sein wichtigstes künstlerisches Verfahren ist. Es ist ungewöhnlich, weil dies in den alten Traditionen von Beobachtung, Kontrolle und vor allem auch Übung wurzelt. Tatsächlich ist es erst die Übung, die dieses Verfahren zu etwas Selbstverständlichen werden lässt.

Dabei geht es Clemens Büntig weder um eine bestimmte, einmalige Rispe, noch um eine allgemeingültige Beschreibung einer Pflanze im Sinne der Botanik. Vielmehr geht es um Formen und Körper, die auf der Bildfläche entstehen und die damit zu einem einmaligen Zeichen werden. Im Ansehen des in der Hand gehaltenen Zweigs schwingt die Erinnerung an viele andere zuvor gesehene Zweige mit. In der Konzentration auf den konkreten Gegenstand entsteht daraus ein Bild, das bei aller Naturtreue die Handschrift des Künstlers trägt.

Ein wesentlicher Aspekt dieser Handschrift ist es, dass der Künstler bevorzugt den Widerstand eines aufwendigen Herstellungsprozesses bevorzugt, indem er das technische Verfahren der Radierung wählt, das meist viele Schritte der Bearbeitung erfordert. Er vollzieht all diese Schritte selbst, von der Zeichnung auf der Metallplatte, der Auswahl der Ätzverfahren, der Wahl der Farben und des Papiers bis zum Drucken. Dies muss erwähnt werden, weil viele Künstler für diese aufwendige Technik gerne auf die Hilfe von professionellen Druckern zurückgreifen, um nicht allzu tief in die spezifischen Belange einsteigen zu müssen. Doch Clemens Büntig ist selbst der Druckprofi, der sein Wissen auch anderen Künstlern zur Verfügung stellt. Dann muss er die Ziele eines Auftraggebers umsetzen und genau einhalten. Seine eigenen Graphiken druckt er hingegen nicht mit dem Ziel einer perfekten Auflage, sondern das Spiel mit den technischen Möglichkeiten treibt seine Arbeit am Bild voran. In diesem Prozess lässt sich der Künstler auch gerne selbst von den unendlich vielen Möglichkeiten überraschen, die die Tiefdrucktechnik mit dem Aquatintaverfahren, der offenen Tiefenätzung und Direktätzung oder der Kaltnadel – um nur einige zu nennen – bietet.

Und diese Möglichkeiten werden in der Verwendung der Farbe, wie Büntig sie fast immer nutzt, noch erheblich gesteigert. Denn so wie seine Arbeiten hier bislang beschrieben wurden, könnte man meinen, es handle sich um schwarz-weiße Strichzeichnungen. Die Farbe spielt aber gerade in den Radierungen ihre eigene Rolle. Sie beschreibt nicht den Gegenstand, sie verstärkt vielmehr die Räumlichkeit der Wahrnehmung. Oft gibt sie den Dingen ein Leuchten, das man sich vor dem meist neutralen Hintergrund kaum erklären kann. Sie leuchten geradezu von innen heraus, wodurch zugleich die Spannung der Konturlinie gesteigert wird.

So wichtig die lineare Zeichnung für Büntigs Kunst ist, so wichtig ist auch die Malerei. Nicht nur dass die Farbe der Zeichnung eine malerische Wirkung verleiht, in jüngster Zeit gewann in den Arbeiten des Künstlers das Malerische auch in der Auseinandersetzung mit der Unschärfe an Bedeutung. Die präzise Kontur eines einzelnen Dinges trat zurück und das Experiment mit fließenden Farben trat in den Vordergrund. Pfützen der dünnflüssig aufgetragenen Farbe auf dem feucht gewordenen Büttenpapier, das sich wellt, und Mulden bildet, wurden von der zeichnerischen Linie geteilt und strukturiert , bis diese sich wieder in ihnen verlor. Zu diesem Spiel mit Zeichnung, Farbe und Wasser ließ sich der Künstler vom draußen gesehenen Schattenspiel der Bäume und Blätter auf dem Boden anregen, das er beobachtete, indem er Kartons auslegte und die Schatten photographierte. Im Schatten verlieren die Dinge an Präzision, ohne dass sich die Räumlichkeit ganz auflöst. Ihre Umrisse verändern sich und andere Farbintensitäten entstehen als in der direkten Anschauung. Der Versuch, das Unpräzise zu malen birgt – wie das Studium der genauen Kontur – eine Gefahr, nämlich den Effekten der ineinander laufenden Farben zu erliegen oder in der Setzung präziser Striche gegen fließende Formen zu einem letztlich nur dekorativen Ergebnis zu kommen. Mit der Platzierung der Formen auf dem Blatt und der Rohheit des Verlaufens und Tropfens setzt sich der Künstler diesem Sog des Dekors erfolgreich entgegen. Das Verfließen der Formen und Striche hat sogar etwas Zerstörerisches, da sich das Bild dem Betrachter teilweise entzieht, wo man doch den Eindruck hat, dass schon einmal mehr zu erkennen gewesen war.

Die Auseinandersetzung mit Pflanzen und Naturphänomenen bietet wenig Ansatzpunkte für ästhetische Brüche. Eine Blume und die außergewöhnliche Form eines Zweiges haben schnell etwas Besonderes, das für den Betrachter abwechslungsreich, spannend und damit eben schön wirkt. Dass seine Bilder schön sind, gar „zu schön“, das durfte sich der Künstler schon manches Mal anhören. Würde er gegenstandslose Farbfelder malen, müsste er sich wohl kaum rechtfertigen. Indem Clemens Büntig aber Benennbares abbildet, gerät die Schönheit des Ergebnisses unter Erklärungszwang. Ist doch diese Kategorie in der Kunst im Laufe des 20. Jahrhunderts derart in Verruf geraten, dass „schön“ schon fast ausschließt, dass es „gute“ Kunst sein könnte. Bruch und Widerstand sind die ästhetischen Verfahren der Moderne, die meint, allem Schönen etwas entgegensetzen zu müssen. Gegen diese Einstellung sind Clemens Büntigs Bilder ein lapidares Statement, dass Schönheit im Sinne von etwas spannend und wohl Geformtem auch heute noch oder wieder von den Verpflichtungen der Antitradition der Moderne losgelöst zu sehen ist. Nach dem Motto: „Wir lassen uns die Schönheit nicht verbieten.“

München, Juni 2012