Clemens Büntig im Dialog mit Kirsten Freundl, art.et.fact consulting

Clemens Büntigs Arbeiten entstehen aus Naturbeobachtungen. Seine Bildobjekte sind inspiriert durch Gesetzmäßigkeiten, die in Wuchs, Gestalt und Lebenszyklen der Gewächse und deren Lebensraum erfahrbar sind. Im Arbeitsprozess mit Kupfer und Säure, Farbe und Papier, Holz und Stecheisen wird diesen Phänomenen Raum zur Mitgestaltung gelassen. Es entstehen Arbeiten, die Präsenz und Gelassenheit ausstrahlen.

„Etwas entstehen zu lassen, anstatt zu kreieren: also keine Behauptungen, Konstruktionen, Erstellungen, Erfindungen, Ideologien – um so an das Eigentliche, Reichere, Lebendigere, heranzukommen, an das, was über meinem Verstand ist…“
(Gerhard Richter)

Du hast dieses Zitat als ‚Leitmotiv‘ Deiner Ausstellung ‚Pflanzen und Pfützen‘ bei Hogan Lovells gewählt. Warum?

In diesem Zitat wird etwas ausgedrückt, was ich zum Teil in meiner Arbeit, aber auch darüber hinaus empfinde. Behauptungen, Konstruktionen, Erfindungen etc., all das ist auf eine Art Verpackung, Verkleidung, die mit sich eine Wichtigkeit und Bedeutsamkeit trägt, die für mich schwer nachvollziehbar ist. Ich möchte gerne dokumentieren, was existiert, ohne bereits benannt zu sein.

Wie kann man sich diesen Prozess des ‚Herausschälens‘ von Inhalt also vorstellen?

Ich suche keinen bestimmten Inhalt, den es herauszuarbeiten gilt. Das widerspricht sogar meiner Suche. Ich will und kann dem Arbeitsprozess nicht vorauseilen. Der Inhalt ergibt sich von allein, oder er ergibt sich nicht. Und genau das ist das Spannende! Inhalt zeigt sich. Die Offenheit und die Techniken sind die Mittel, mit denen ich versuche, ihn sichtbar zu machen.

Wenn man zum Beispiel die Radierung ‚Bärenklau‘ betrachtet: Hier benutzte ich einen Abdecklack, der stark mit Terpentin verdünnt war, und ließ die Kupferplatten relativ lang in der Säure liegen. Die Säure brach nun die vorgegebene Struktur des Lacks auf und kreierte eine eigene Struktur. So formten sich im ‚Bärenklau‘ um die tropfenförmigen Samenstände kleine Pünktchen. Das war unbeabsichtigt. Ein Geschenk des Zufalls. Eine Mitsprache des Materials. Oder einfach auch nur ein Fehler. Ich liebe Fehler dieser Art. Und ich wiederhole sie bis zur Perfektion. Bis aus diesem Fehler eine Technik entstanden ist bzw. bis er zu einem Prozess geworden ist, den ich wiederholen kann. Ein bewusst unbewusster Vorgang, wie es Jonathan Fischer von der SZ bereits treffend formulierte, oder eine Technik, die immer den Zufall mit einlädt.

Kann man deshalb davon ausgehen, dass dieser bewusst unbewusste Prozess ein für Deine Arbeit wichtiges Kriterium ist?

Ja, ich denke schon. Es ist auf jeden Fall ein entscheidendes Kriterium meiner Herangehensweise. Zu unterschiedlichen Zeitpunkten während des Arbeitsprozesses lasse ich die Kontrolle los, gebe sie ab an einen Prozess, der immer das Kriterium Zeit in sich trägt. Zeit und Material. Und Freiheit von einschränkenden Konzepten. Und das bedeutet auch Freiheit von mir selbst.

Zurück zum Leitmotiv …

Nun – es ist so, dass ich mich natürlich in diese Arbeitshaltung der Erwartungslosigkeit einbinden muss. Das heißt, manchmal muss ich z.B. auch meine Haltung der „Absichtslosigkeit“ hinterfragen. Auch das kann zu einem einengenden Konzept werden – vor allem dann, wenn ich zu dieser Form der Wahrnehmung nicht fähig bin, wenn mir die Sensibilität dafür fehlt. Dann muss ich die Spur wechseln, in einen anderen Arbeitsmodus gehen. Zum Beispiel den Modus des sehr genauen Beobachtens einer Pflanze. Ich zeichne sie so exakt wie möglich ab. Und dann passiert es – durch diese Studie und die Konzentration, die dafür nötig ist, habe ich mir wieder die Fähigkeit erarbeitet, locker und erwartungslos zu sein und die Dinge laufen zu lassen. Innere Freiheit ist ein Stück Arbeit.

Was ist Dir in Deinem Schaffensprozess am wichtigsten?

Respekt und Freiheit. Respekt gegenüber dem, was sich tatsächlich zeigen will, gegenüber dem, was ich tatsächlich zeigen möchte. Und die nötige Sensibilität und Mut dafür, es umzusetzen, es auszudrücken. Das heißt, Ehrlichkeit mir selbst gegenüber und ein Vertrauen in den Lauf der Dinge. Und da kommt das Element Natur hinzu. Ich glaube, dass Natur ein fraglos sinnvolles Phänomen ist. Es ist sogar mehr als das. Die Natur ist ein Wunder und der Mensch ist Teil davon. Insofern erforsche ich die Natur in all ihren Aspekten. Die menschliche Natur, meine Wahrnehmungsfähigkeit und die mich umgebende Natur. Mein Arbeitsmaterial gehört natürlich auch dazu.

Freiheit…, das ist eine andere Sache. Ich bin relativ frei aufgewachsen. Meine Eltern kauften in den Siebzigern südlich von München einen Aussiedlerhof im Rohbau und bauten ihn mit Freunden aus. Kein fließendes Wasser, es war unser Job als Kinder, es von der Quelle im Wald zu holen. Kein Strom in der ersten Zeit. Kochen auf dem Feuer. Sie gründeten ZIST, ein Zentrum für Individual- und Sozialtherapie. Heute ist es ein angesehenes Seminarhaus. Anfangs gab es Phasen, da war die Freude meines Elternhauses an neuen Strömungen und Lehren in der humanistischen Therapie sehr groß und so kam es vor, dass ich als „Neuner“ oder „Vierer“ „diagnostiziert“ wurde – Begriffe für bestimmte Menschentypen. Diese Betitelung meiner Person erlebte ich in der Pubertät als einengend, missverständlich und letztendlich unangemessen für mich als einen sich in ständiger Veränderung befindenden Mensch.

Nun bin ich älter und habe mir wohl aus meinem Leben eine Arbeitsmethode entwickelt, die mit Polaritäten zu tun hat. Disziplin und Chaos, Regeln und Freiheit. Stellt sich nun die Frage, ob es tatsächlich Gegensätze darstellt. Unabhängig, frei zu sein, ist meiner Meinung nach nur in Beziehung zu Begrenzung möglich. Man kann sich nur frei machen von ungesunden Abhängigkeiten. Den Versuch unternehmen, Abhängigkeiten zu sehen, anzuerkennen, sie zu verabschieden oder als gottgegeben zu akzeptieren und mit ihnen zu arbeiten. In der Bewusstheit der Begrenzung die Freiheit entdecken! Und die kann immens und beängstigend sein. Freiheit und Grenzen bedingen sich gegenseitig. Ich arbeite viel innerhalb dieser Polaritäten. Setze mir Grenzen, innerhalb derer ich mich frei und anarchisch bewegen kann. Und das hat meist mit Wahrnehmungsräumen zu tun.

Räumen der Wahrnehmung? Inwiefern?

Ich untersuchte in den letzten zwanzig Jahren unterschiedliche Formen der Wahrnehmung und Dokumentation. Angefangen mit dem klassischen Naturstudium, dann das „blinde Sehen“ oder „emotional X-rays“, das „reine Schauen“ oder „just looking“ oder auch das „über die Berührung Sehen“. Durch das Ausschließen des Sehsinns übernehmen andere Sinne die Aufnahme und man umgeht die Zensur des visuell konditionierten Menschen. Es eröffnet einen Raum, der weitgehend unerforscht und unbenannt ist. Eben einen Raum der Wahrnehmung.

Heißt das, dass Du bewusst einen Zustand der Wahrnehmung schaffst, der diesem Unbewussten Raum zur Entfaltung gibt?

Nun, man kann es Unbewusstes nennen – Unbenanntes oder Ungewusstes ist mir näher – aber, ja, ich habe Techniken entwickelt, um mich in einen bestimmten Arbeitsflow zu bringen. Beim blinden Sehen zum Beispiel schließe ich die Augen und konzentriere meine Wahrnehmung auf meinen Körper. Oft war es die Augenpartie, die Augenhöhlen oder die Augäpfel, die ich als erstes wahrgenommen habe. Dann ein Jucken an der Nase. Diese zuerst sinnlichen, körperlichen Impulse setzte ich zeitgleich zeichnerisch um. Der Körper wurde zu einem Raum, den ich mit meiner Wahrnehmung abscante und mit Bleistift, Kohle oder Pinsel dokumentierte. Nach und nach durchforschte ich somit meinen gesamten Körper, tauchte von der Hautoberfläche zu den darunter liegenden Muskelpartien, dann zu den Knochen, dann wieder zur Luft, dem Atem, der ein und ausströmt, und immer wieder tauchten Bilder auf oder Farben. Das Ausschlag gebende Kriterium, um aufzuzeichnen, ist dabei immer der stärkste Impuls. Diesen dokumentiere ich, genauso wie auch beim Zeichnen mit offenen Augen. Während des Malens oder Zeichnens ist Denken hinderlich. Der Verstand kommt bei der Wahl der Mittel zu seinem Recht. Oder bei der Betrachtung des Entstandenen und der Entscheidung zum nächsten Schritt. Mein Arbeiten ist ein ständiges Pendeln zwischen den unterschiedlichen Herangehensweisen und Wahrnehmungsfeldern.

Was reizt Dich an dem Begriff ‚Wahrnehmung‘?

Ich glaube, mir ist einfach kein treffenderer eingefallen. Und – er ist an sich schön. Wahr nehmen. Das Wahre nehmen, das wahre Nehmen. Damit lässt sich sogar spielen. Er passt schon ganz gut. Ist das künstlerische Arbeiten doch schon auch ein Suchen nach Wahrheiten, nach Sosein. Ein Arbeiten, bis das Bild sagen kann: „Ich bin!“, und mich nicht mehr braucht. Perfekt.

Was macht Deinen Arbeitsansatz aus? Kann man bei Impuls von einer Initialzündung sprechen?

Doch, ich denke schon. Beim Arbeiten folge ich immer dem stärksten Impuls, der dann die weiteren Schritte bedingt und einleitet. Er kann mich auf mehreren Ebenen erreichen. Blind, sehend, intuitiv, willentlich, also bewusst gewählt. Die verschiedenen Ebenen sind dabei die Werkzeuge, die ich einsetze. Die Techniken sind wie Kameraden, mit denen ich mich zusammenschließe, um zu sammeln, was sich oder ich zeigen will. Bei allem Laufenlassen gibt es trotzdem immer noch eine Instanz, die das Entstandene reflektiert.

Warum hast Du gerade Pflanzen als Motive, als Auslöser gewählt?

Das ist eigentlich ganz einfach zu beantworten. Ich liebe Pflanzen und sie sind Teil meiner Familiengeschichte. Meine Vorfahren waren alle sehr naturverbunden. Und ich möchte mich mit dem beschäftigen, was ich mag, an das ich glaube, das für mich eine gesunde und schöpferische Kraft hat. Das Thema Zerstörung hat zwar auch eine Faszination auf mich ausgeübt, aber das habe ich in früheren Phasen verarbeitet. Moment, das stimmt so nicht. Ich setze sie heute bewusster ein, Zerstörung ist Teil des Schöpfungsprozesses.
Interessant ist dennoch, dass ich die Natur – und die ist auch in einem Gänseblümchen in voller Wucht präsent – meist als gnadenlos und zum Teil sogar brutal wahrnehme. Doch das erscheint mir nicht als Willkür, sondern eher wie ein Gesetz. Und Gesetzmäßigkeiten meine ich auch im Wuchs von Pflanzen zu erkennen. Sie erzählen mir eine Geschichte.

Inwiefern sind Pflanzen für Dich Impulsgeber?

Es ist weniger eine bestimmte Pflanze. Es ist eher der grundlegende Impuls, der Pflanzen sein lässt, der sie wachsen lässt, jede auf ihre Art. Und für mich gibt es nichts Größeres und Genialeres als die Natur. Die Pflanzen sind eine ihrer Ausformulierungen. Nur eine ihrer Ideen. In den Pfützen ist der natürliche Impuls form- und namenlos. Und doch nehme ich ihn wahr – in der Art und Weise, wie die Farbe läuft und auf meine Wahrnehmung wirkt.

Gibt es noch andere Impulsgeber?

Ja, andere Künstler, zum Beispiel Guston, De Kooning, Goya, Richter, Bosch, Holbein, Baselitz, Dürer,… und andere. Auch gute, ehrliche Gespräche mit anderen Menschen oder älteren Menschen, die in ihrem Leben etwas mit Leidenschaft verfolgt haben und nicht davor zurückschrecken in ihre eigenen Abgründe zu blicken, dort nicht hängenbleiben sondern durchgehen und in der Lage sind bereichert und gut weiter zu leben. Interviews. Menschen im Allgemeinen, ihre Gesichter…aber auch das Wetter, Farben, Licht- und Schattenspiele. Es gibt vieles, was die Arbeitslust anstößt. Doch letztendlich liegen alle Impulse brach, wenn man sie nicht nutzt. Und so ist der wichtigste Impulsgeber das Arbeiten an sich. Die Bilder entstehen aus sich heraus.

Du hast davon gesprochen, dass Du in Resonanz mit Deinen Impulsgebern gehst und dann frei assoziierend künstlerisch tätig wirst. Bist Du dann so eine Art Katalysator oder Medium? Kann das Impulsgeben denn dann als ein in Dialogtreten mit dem Auslöser bezeichnet werden?

Ich habe heute einen Zweig mit ein paar verwelkenden Blüten mit einer Kaltnadel auf Kupferplatten geritzt. Als Vorbereitung für diese Arbeit setzte ich mich zu einem großen Quittenbaum und beobachtete genau einen solchen Zweig. Seine Blätter, seine Bewegungen, die Adern im Blatt und die welkenden Blüten. Ich nahm die einzelnen Bausteine wahr, aus denen dieses Blatt zusammengesetzt war. Den Schwung und die Bewegung im Wind. Wenn ich mich entschließe, eine Pflanze zu zeichnen, dann vertraue ich mich ihr an, ich widme mich ihr, studiere sie, mach in mir Platz und nehme sie auf. Wenn ich das nicht kann, dann muss ich es sein lassen. Es ist eine Art Kommunikation. Wobei sich hier die Frage stellt, wer mit wem redet. Die Pflanze mit mir, ich mit der Pflanze oder die Pflanze mit der entstehenden Zeichnung.

Deine Frau Barbara sprach davon, dass Deine Bilder für sie, Bilder der Gelassenheit sind, die etwas passieren lassen. Ist das auch eine Deiner Intentionen? Etwas zu schaffen, das Raum lässt für Resonanz und den Betrachter einlädt, in diese zu gehen? Oder ist das eher ein ‚Nebenprodukt‘? Geht es Dir eigentlich eher um ein Schwingen, eine Resonanz in Dir, die damit zu Ausdruck gebracht wird?

Ich finde es gut, wenn Bilder mit dem Betrachter weiterarbeiten können. Ich lasse sie gerne eigenständige Beziehungen haben. Sie müssen anderen nicht so erscheinen wie mir. Ich höre gerne zu, wenn mir andere Leute berichten, was sie in den Bildern sehen. Es gibt jedoch auch Bilder, die ich straffe und kläre, um sie eindeutiger zu machen.

‚Das Bild in mir, mein Bild in dir‘. Was heißt das für Dich?

Es erinnert mich an den Begriff der Adäquatio aus der Philosophie oder auch der christlichen Mystik. Es besagt in Kurzform, man erkennt Gott, weil man ihn in sich trägt. So habe ich es zumindest in Erinnerung. Die Psychologie spricht von Projektionen. Eigenschaften, die man im anderen zu erkennen meint, die jedoch großteils die eigenen sind. Auf die Kunst, auf das Arbeiten bezogen? Ja, ich erlebe es immer wieder, dass ich eine Form, eine Pflanze oder eine Technik im Außen suche, die mit meiner inneren Verfassung korrespondiert. Und so muss ich wohl meine Arbeit selbst machen, jemand anderes kommt dafür nicht in Frage.

In wie weit ist Deine Arbeit Identität stiftend?

Ich habe mal ein readymade „gemacht“. Ein Stück altes Seife, dass viel benutzt wurde und dementsprechend geformt war. Darunter schrieb ich: „Ich hab mich selber nicht gemacht, und doch formt ich mich wie von selbst.“ Natürlich erkenne ich mich über das Arbeiten. Ich erkenne mich und das Andere. Ich bin Empfänger und Regisseur der Techniken und Zufallsprozesse, die ich in Verbindung mit den Impulsgebern zu gegebener Zeit einsetze. Natürlich bin ich ein Individuum, aber eines von vielen und ich hänge mit Allem, was existiert, auf eine gewisse Art zusammen.

Apropos – warum bist Du eigentlich Künstler geworden? Was fasziniert Dich daran?

Louise Bourgois sagte mal, „Künstler kann man nicht werden, man kann die Gabe nur annehmen oder ablehnen.“ Warum wird eine Birne eine Birne und kein Apfel? Diese Frage kann nur mit Vermutungen beantwortet werden. Ich habe schon sehr viele unterschiedliche Arbeiten gemacht. Keine erschien mir so sinnvoll und befriedigend wie die künstlerische. Und vielleicht bin ich Künstler, um eine Sprache für das Sprachlose zu suchen, und dabei liegen mir die künstlerischen Mittel am meisten.

München, Juni 2012